Die Reibungsfläche des Unkonkreten

15. Januar 2015

Ich habe etwas Ungeheuerliches versucht. Und zwar: Nicht mehr meiner ersten, reflexhaften Reaktion nachzugeben und stattdessen die Ängste und Forderungen der Pegida erst zu nehmen.

Dies gestaltet sich kompliziert, besteht doch eine sehr deutliche Differenz zwischen den offiziellen Forderungen des Vereins und dem, was man -zum Teil direkt, zum Teil zwischen den Zeilen- bei den Interviews mit den Menschen heraushört.

Ich habe versucht hier eine gewisse Kongruenz herzustellen und nehme daher an, dass sich aus den offiziellen Forderungen wie:

  • eine gesteuerte Zuwanderung über ein Punktesystem nach dem Beispiel Kanadas
  • eine konsequente Abschiebungspolitik
  • „Null-Toleranz“ gegenüber straffällig gewordenen Zuwanderern
  • verstärkte Wiedereinreisekontrollen
  • Bewahrung und Schutz „der Identität unserer christlich-jüdischen Abendlandkultur“[Positionspapier]

und dem doch recht schlichten Tenor vieler Interviewpartner, nämlich “Ausländer raus” eine Schnittmenge bestimmen lässt. Ich nehme an, dass grundsätzlich weniger Zuwanderung gewünscht ist, vor allem aber konkret geregelte Zuwanderung nach bestimmten Maßstäben und Regeln sowie konsequente Sanktionierung bei Missachtung dieser. Dies dürfte der Teil sein, auf den sich vermutlich die überwiegende Zahl der Teilnehmer einigen könnte und womit er sich auch zitieren lassen würde.

Ganz unabhängig von möglichen, tiefer gehenden Ursachen für diese Ansichten, sind dies ganz legitime Forderungen. Der Streitpunkt kann sein, ob es sinnvoll ist weniger Zuwanderung zu fordern oder ob die aktuellen Zahlen überhaupt einen realen Anlass zur Sorge bieten. Davon einmal abgesehen, kann man aber in einer Demokratie der Meinung sein, dass zu viele Menschen zuwandern. Und wenn es nur einer ist.

Warum sind diese Menschen so vollständig und vermeintlich irrationaler-weise anderer Meinung, als man selbst?

Die Frage, die gestellt werden muss, besonders wenn der eigene Reflex ist, eher gegenteilige Forderungen an die Politik stellen zu wollen, ist aber: Warum sind diese Menschen so vollständig und vermeintlich irrationaler-weise anderer Meinung, als man selbst. Und wieso gehen sie dafür auf die Straße und wieso haben sie das Vertrauen in Politik und Presse, kurzum in die Institutionen unserer parlamentarischen Demokratie verloren.

Um dieser Frage nachzuspüren, möchte ich ein weiteres Ressentiment aufgreifen, das einem besonders im Netz in Kommentaren und Blogs auf Facebook oder Twitter von Seiten der Pegida-Befürworter begegnet. Nämlich der Diffamierung aller, die gegen sie sind als Grün-Linke Gutmenschen und Gläubige des Systems, welches ebenfalls als “links, grün, gegendert und politisch korrekt” empfunden wird.

Wie kann das sein? In meiner Wahrnehmung ist das Gegenteil der Fall. In meiner Wahrnehmung hat die SPD seit der Agenda 2010 jede Form von linker Politik hinter sich gelassen. Die Energiewende, als einzig originär grünes Projekt von Bedeutung wird vollkommen versaut und was mit TTIP und TISA auf uns zukommt dürfte alles sein, aber nicht links. Gender-Pay-Gap und Mutterschaftsstrafe im Beruf existieren nach wie vor. Und ich kann mich nicht erinnern, dass beispielweise ein Herr Seehofer zerpflückt worden wäre, weil er mal wieder ausländerfeindliche Statements vom Stapel gelassen hat:

“Wir werden uns gegen Zuwanderung in deutsche Sozialsysteme wehren – bis zur letzten Patrone” [SPON]

Political correctness WTF?

Mein “System” ist konservativ bis reaktionär, tendenziell auf dem rechten Auge blind (NSU-Komplex), ein Überwachungsstaat, schleift den Sozialstaat zugunsten des reichsten 1% und beseitigt gesellschaftliche Ungleichheiten (Homo-Ehe) nur dort, wo es gar nicht mehr anders geht.
Das “System” der Pegida-Anhänger ist links-grün, verschafft Ausländern und anderen Minderheiten  wie Frauen (sic!) Vorteile. Es will eine Multikulti-Gesellschaft und traut sich nicht gegen Moscheen in Innenstädten vorzugehen. Es belastet uns wegen der grünen Energiewende mit steigenden Stromrechnungen und erhöht sowieso unablässig die Steuern um das Geld an Asylanten zu verteilen.

Wie kann das sein? Wir leben im selben Land. Aber in unterschiedlichen Filterblasen.

Kurzum:

Ich befinde mich in einer Filterblase. So wie wir alle, die wir Nachrichten wahrnehmen, die wir selbst auswählen, oder die für uns vorselektiert werden. Wie wir alle, die wir uns in der Regel in einem einigermaßen homogenen Freundeskreis bewegen und uns unsere Facebook- und Twitter-Timeslines selbst zusammenbauen. Bereits die Tatsache, dass wir überhaupt Nachrichten schauen oder das Internet für etwas anderes, als den Konsum von Nackedei-Bildern nutzen, erzeugt bei uns einen anderen Blick auf die Welt, als denjenigen, der jemand hat, dessen Freundeskreis dies ebenfalls nich tut und dessen Fenster zur Welt die Titelseite der BILD am Bahnhofskiosk ist. Dieser Blick ist nicht per se weiter, differenzierter oder besser, er zeigt erst einmal nur einen anderen Ausschnitt.

Daher: Ich weiß, dass mein Blick auf das Geschehen in Deutschland und der Welt sehr subjektiv, sehr selektiv und stark gefärbt ist. Die Themen, die in meiner Blase eine Rolle spielen und ihre Gewichtung und Interpretation weichen teilweise sehr stark von den Themen ab, die beispielsweise in der Tagesschau oder auf SPON den Ton angeben. Ich könnte also durchaus veranlasst sein anzunehmen, dass die Medien Themen wie Bürgerrechte oder Vermögensverteilung gezielt verschweigen. Die dreckige Lügenpresse halt.

Arbeitsverweigerung der Politik

Steile These nun: Ich, der ich mich links, liberal und progressiv verorte, bin strukturell aus den selben Gründen unzufrieden, wie diejenigen, die jetzt in Dresden auf die Straße gehen. Unser Vorwurf richtet sich gegen die Politik insgesamt und lautet: Arbeitsverweigerung. Oder treffender: Bloße Verwaltung statt Gestaltung der Zukunft.

Wann immer ich Politiker oder ihre Vertreter wahrnehme sagen Sie: NICHTS. Nullsprech. Dass die Kunst viel zu reden und nichts zu sagen vom Handwerkszeug des Politikers zur existenzerhaltenden Fähigkeit geworden ist, ist längst eine Binse.

Und dass Angela Merkel die Königin der Nichts-Sager ist macht sie seit Jahren so erfolgreich. Ich habe allerdings den Eindruck, dass dieser Erfolg sich beginnt in sein Gegenteil zu verkehren und Pegida das erste deutlich sichtbare Symptom dafür sein könnte.

Angela Merkel und ihresgleichen bleiben immer unkonkret. Um später nicht festgenagelt werden zu können. Und um niemanden zu verschrecken. Es wird von Ihnen ebenso wenig konkrete Pläne zum Breitbandausbau geben (würde mich interessieren), wie die Aussage “125.000 Einwanderer, dann machen wir dicht.” Ich, wie der dresdener Demonstrant wünscht sich aber konkrete Aussagen. Einen Plan für die Zukunft. Dieser wäre der zentrale Punkt, der die Parteien überhaupt erst unterscheidbar macht. Ich möchte nicht falsch verstanden werden: Ich wünsche mir nicht Führung im Sinne einer Basta-Politik. Sondern vielmehr die Möglicheit überhaupt eine sichtbare Wahl zwischen verschiedenen Positionen zu haben.

Dass Pegida jetzt zur Umsetzung Ihrer Wünsche ein Einwanderunggesetz fordern kann ist Folge der Tatsache, dass die Politik jahrelang nicht in Lage war überhaupt klar zu sagen, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist und somit eine entsprechende gesetzliche Regelung benötigen könnte.

Das Unkonkrete lässt immer Raum für Zuschreibungen. Die Reibungsfläche am Unkonkreten ist, entgegen den Einschätzung der Politik, enorm.

Mein Kopf gibt inhaltsleerem Politiker-Geschwurbel etwas hinzu. Aus der Diskrepanz dessen, was ich von einer vernünftigen Politik erwarten würde und dem, was ich in den letzten Jahren erlebt habe, wird aus dem Unkonkreten vielleicht folgendes: Die sind zu feige zu sagen, dass sie wahlweise wieder die Interessen der Wirtschaft oder Reichen bedienen werden, die Geheimdienste weiter machen lassen, den Kopf nicht aus dem Rektum der USA ziehen werden oder was auch immer.

Jemand, der sich in einer vollkommen anderen Filterblase befindet, völlig andere Erwartungen an die Politik hat, wird folgerichtig auch andere Zuschreibungen vornehmen, wenn er Worte ohne Inhalt von Politikern vernimmt. Bei ihm wird aus dem Mangel an festnagelbaren Aussagen vielleicht: Sie kümmern sich wieder nicht um Einwanderung, natürlich gibt es keine Kindergeld-Erhöhung, dafür aber die bekloppte Frauenquote, Homoehe der Strom wird immer teurer. Unter der Wahrnehmung der eigenen schwierigen sozioökonomischen Situation wird der unvermeidliche gesellschaftliche Wandel zum offen sichtbaren Teil dessen, was unter der Oberfläche zur Prekarisierung und Destabilisierung weiter Teile der einst sicheren Mittelschicht geführt hat. Multikulti und offene Gesellschaft als Begleiterscheinungen verfehlter Wirtschafts- und Sozialpolitik. Wobei primär erstere, da einfacher sicht- und verstehbar, als Problem erkannt werden.

Aus “Deutschland geht es gut” wird bei mir “Ja ja, der deutschen Wirtschaft und den oberen 10% geht es gut und immer besser”, bei jemand anderem vielleicht “Ja ja, für Ausländer ist Geld da, aber wir hier sind von Altersarmut bedroht.”

Ich glaube also, dass sich die Unzufriedenheit völlig unterschiedlicher Gruppen in völlig unterschiedliche Richtungen gezielt, aus der gleichen Quelle, nämlich einem Mangel an belastbaren Aussagen aus der Politik speist.

Als ein Indiz am Rande für die Richtigkeit der Richtung meiner These könnte die Tatsache gedeutet werden, dass laut Umfragen 25% der Linken-Wähler mit Pegida sympathisieren.
Allerdings sei noch erwähnt, dass man als “linker Gutmensch” noch einen recht konkreten Vorteil, gegenüber dem Klientel von Pegida hat. Ich habe zumindest die Alternative, meinen Unmut an der Wahlurne mit einem Kreuz bei der LINKEN zu manifestieren. Denn dort finden sich zum Teil recht konkrete Vorstellungen davon, wo eine linke Politik hin möchte.
Auf der anderen Seite des politischen Spektrums besteht diese Möglichkeit nicht. Die NPD ist zwar auch konkret, aber selbst dem Demonstranten in Dresden vermutlich zu verächtlich. Auch in seiner Filterblase ist es nicht in Ordnung offen rechtsradikale zu wählen. Somit bleibt nur die Straße als Manifestation des eigenen, politischen Willens.

Und nur, damit wir uns verstehen: Ich halte diese Stoßrichtung für grundfalsch und Denkfaulheit für eine wesentliche Voraussetzung dafür. Trotzdem wird das Problem Rassismus sich nicht bezwingen lassen, in dem Menschen die bei Pegida mitlaufen lächerlich gemacht werden (auch wenn sie es echt drauf anlegen). Die grundlegenden politischen Probleme müssen angegangen werden. Und die mindeste Voraussetzung dafür wäre, dass Parteien wie Politiker sich eindeutig positionieren. Damit das Volk (da isses wieder) überhaupt die Wahl hat und nicht erst durch Dredsen marschieren und seine Intelligenzminderung in Panorama-Interviews zu schau stellen muss.

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